Prof.Dr. A. Sander: Interdisziplinarität in einer inklusiven Pädagogik

Vortrag von Prof. Dr. Alfred Sander zum Thema „Interdisziplinarität in einer inklusiven Pädagogik“, gehalten im Rahmen des ANCE-Symposiums in Luxemburg am 12. Oktober 2006

Interdisziplinarität in einer inklusiven Pädagogik

1. Vorbemerkung

Die Forderung nach interdisziplinärer Zusammenarbeit ist in der Pädagogik sehr alt. Denn die Pädagogik hat es mit der Erziehung von Menschen zu tun, also von hochkomplexen Individuen, die auch in der Kindheit schon mit eigenem Willen ausgestattet sind und sich deshalb mit den Mitteln einer einzelnen humanwissenschaftlichen Disziplin oft nicht wirksam beeinflussen lassen. In vielen Fällen erlebt sich der einzelne Pädagoge, die einzelne Pädagogin an der Grenze der professionellen Fähigkeit bzw. an der Grenze der institutionellen Zuständigkeit. Spätestens dann wäre Kooperation mit andern Fachleuten erforderlich, aber aus diversen Gründen kommt es in der Praxis nur relativ selten zu erfolgreicher und entlastender interdisziplinärer Zusammenarbeit. Dieser in den meisten Ländern beobachtbare unbefriedigende Zustand war offensichtlich Anlass für das begrüßenswerte Symposion, zu dem wir uns hier versammelt haben.

Mein Beitrag behandelt den Zusammenhang von inklusiver Pädagogik und interdisziplinärer Zusammenarbeit. Ich möchte zunächst auf den in der Pädagogik noch relativ jungen Begriff der Inklusion eingehen.

2. Zum Begriff der Inklusion

Seit etwa 15 Jahren ist in der angloamerikanischen Pädagogik häufig von inclusion die Rede, und seither findet man das Wort Inklusion zunehmend auch in der pädagogischen Literatur anderer Sprachen. Wer die US-amerikanische Fachdiskussion verfolgt, hat allerdings bemerkt, dass dort inclusion in recht unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird. Nicht jedes amerikanische Inklusions-Konzept stellt einen Fortschritt dar im Vergleich zu den uns vertrauten Integrations-Konzepten; man muss genau prüfen, was im konkreten Kontext gemeint ist.

Inclusion bedeutet allgemein Einbeziehung. Vor allem seit der „World Conference on Special Needs Education„, die 1994 von der UNESCO in Salamanca veranstaltet wurde, ist der Terminus inclusion international unter Pädagogen und Pädagoginnen im Gebrauch. Die Dokumente der Salamanca-Konferenz – so schreibt die UNESCO in ihrem Abschlussbericht – „sind durchdrungen von dem Prinzip der ‚Inklusion‘ und von dem Bewusstsein der Notwendigkeit, auf eine Schule für alle hinzuarbeiten“ (UNESCO 1995, Preface; Übersetzung von A.S.). Im englischen Text der viel zitierten Salamanca-Erklärung (Salamanca-Statement 1994) ist durchgehend von inclusion die Rede, von inclusive education, inclusive schools; hingegen verwendet die offiziöse deutschsprachige Übersetzung (Salamanca-Erklärung 1996), die die österreichische UNESCO-Kommission veranlasst hat, diese neuen Termini noch nicht, sondern sucht mit ‚Integration‘, ‚integrative Bildung‘, ‚integrative Schule‘ auszukommen. Das ist zweifellos mit ein Grund für die nur zögerliche und uneinheitliche Übernahme des Inklusionsbegriffs in die deutschsprachige Pädagogik.

2.1 Historische Entwicklungen

Heute erkennen jedoch auch im Deutschen viele Fachleute einen Unterschied zwischen Integration und Inklusion. Ganz klar wird der Unterschied beispielsweise von dem bekannten Schweizer Heilpädagogen Alois Bürli herausgestellt, einem hervorragenden Kenner der europäischen Behindertenpädagogik. Bürli sieht mit dem Konzept der Inklusion eine grundlegend neue pädagogische Epoche beginnen, die die Epoche der Integration ablöst. In seinem Studientext über „Internationale Tendenzen in der Sonderpädagogik“ nimmt Bürli (1997, S. 55 f.) eine Einteilung der historischen Entwicklung seiner Disziplin in vier große Epochen vor, gekennzeichnet durch die Begriffe:

1. Exklusion

2. Separation

3. Integration

4. Inklusion.

Schon auf den ersten Blick wird der durchgängige Trend dieser Entwicklung erkennbar, nämlich die abnehmende Ausgliederung von behinderten Kindern bzw. die zunehmende Gemeinsamkeit aller Kinder (vgl. auch Sander 2006). In der Realität treten die vier Entwicklungsphasen nicht trennscharf nacheinander auf, sondern überlappen einander (Bürli a.a.O.). Geschichte verläuft bekanntlich nicht immer logisch und geradlinig.

Während der Phase Nummer 1, der Exklusion, waren Kinder oder Jugendliche mit Behinderung von jeglichem Schulbesuch ausgeschlossen, exkludiert. In Europa war das mindestens bis Ende des 18. Jahrhunderts der Fall.

Kennzeichen von Phase 2, Separation, ist, dass behinderte Kinder und Jugendliche nun zwar Bildungseinrichtungen besuchen können, die jedoch von den allgemeinen Schulen getrennt sind. Die Betroffenen sind dann nicht mehr vom Schulwesen exkludiert, aber im Schulwesen separiert. In Europa begann diese Phase vor gut 200 Jahren mit der Errichtung der ersten dauerhaften Bildungsanstalten für Gehörlose und für Blinde in Paris, kurz darauf auch in Wien, Leipzig, Berlin usw. Das waren die Anfänge des Sonderschulwesens. In den Sonderschulen arbeiteten alsbald nur noch monodisziplinäre Spezialisten, die Sonderschullehrer. Deutschland befindet sich immer noch ganz überwiegend in dieser Separationsphase. Denn laut offizieller Schülerstatistik besuchen in Deutschland rund 85 Prozent aller behinderten Kinder und Jugendlichen im Schulalter immer noch Sonderschulen (vgl. KMK 2005). In den 1970-er Jahren betrug diese Quote allerdings noch fast 100 Prozent.

Die Phase 3, Integration, begann in vielen Industriestaaten während der 1960-er Jahre im Zusammenhang mit den Neuen Sozialen Bewegungen. Kennzeichen dieser Phase ist, dass behinderte Kinder und Jugendliche durch die Mitarbeit von Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen in normalen Klassen allgemeine Schulen besuchen können und insofern nicht mehr separiert unterrichtet werden. Hier ist erstmals interdisziplinäre Zusammenarbeit strukturell notwendig, nämlich mindestens die Kooperation von Regelschullehrkräften und sonderpädagogischen Lehrkräften. Im finanzschwachen Nachbarland Saarland waren auf diesem Wege im Schuljahr 2005/06 immerhin schon 26 Prozent aller behinderten Schulkinder in Regelschulen integriert, und zwar von allen Behinderungsarten und sowohl in der Primarstufe als auch in der Sekundarstufe (MBKW 2005).

2.2 Inklusion I, II, III

Phase 4, Inklusion, unterscheidet sich quantitativ, vor allem aber qualitativ von den vorausgegangenen Phasen, sofern man Inklusion als eine optimierte und umfassend erweiterte Integration versteht. Ein solcher Inklusionsbegriff begründet die neue Entwicklungsphase. ‚Inklusion‘ wird aber leider nicht immer in diesem Sinn verstanden (vgl. Sander 2003, S. 314 ff.), in der Fachliteratur lassen sich vielmehr mindestens drei Bedeutungen finden, auf die ich kurz aufmerksam machen will; denn nur die dritte ist weiterführend.

Erstens, Inklusion wird manchmal schlicht als neues Wort für Integration gebraucht. Beide Begriffe sind dann synonym. Wer das neue Wort so verwendet, tut das wohl aus einer verbreiteten menschlichen Gewohnheit heraus, neue Termini aufzugreifen, um damit als aktuell informiert zu gelten; er meint mit dem neuen Wort aber in der Sache nichts wirklich Neues. – Ein solcher Inklusionsbegriff ist unnötig und verzichtbar.

Zweitens, bei anderen Fachleuten bedeutet Inklusion eine von Fehlentwicklungen befreite Integration. In der Tat läuft ja in den Schulen und auch außerhalb der Schulen nicht alles gut, was ‚Integration‘ genannt wird. In der Realität treten immer wieder Schwachstellen auf, sei es in lokalen Einzelfällen, sei es strukturell durch politischen Missbrauch des Wortes Integration für Maßnahmen, die faktisch separieren (für deutsche Verhältnisse vgl. z.B. die Auflistung bei Boban 2000, 244 f.). Kritische Kolleginnen und Kollegen, die sich von dieser Verwässerung des Begriffs Integration absetzen wollen, bevorzugen deshalb neuerdings den Begriff Inklusion. Mit Inklusion meinen sie eine von Fehlformen befreite, auf ihr eigentliches Anliegen konzentrierte Integration; also nicht die bloße Addition eines behinderten Kindes oder Jugendlichen mit persönlicher sonderpädagogischer Unterstützung in eine Regelschulklasse, sondern die prinzipielle Berücksichtigung der Verschiedenheiten der Kinder im gemeinsamen Unterricht, die Akzeptanz der natürlichen Vielfalt in der Klasse. Inklusion in diesem zweiten Sinne (Inklusion II) bedeutet optimierte Integration für Menschen ohne und mit Behinderung. – Ich denke, diese kritische Position ist wertvoll und in der Gegenwart – jedenfalls in Deutschland – geradezu notwendig. Ein so verstandener Inklusionsbegriff konstituiert aber noch keine neue Epoche.

Drittens, immer öfter findet man in der erziehungswissenschaftlichen Fachliteratur eine weitere Bedeutung von Inklusion, eine folgerichtige Erweiterung der zweiten. Denn Inklusion als optimierte Integration verändert, wie schon angedeutet, den Unterricht und das Klassenleben insgesamt, weil die Unterschiedlichkeit der Kinder nicht mehr als störend empfunden wird, sondern als natürliche Ausgangslage und auch als Ziel der pädagogischen Arbeit gilt (vgl. auch Hinz 2004). Daher treten in einer inklusiven Klasse neben den behinderten Schülern auch andere Schüler und Schülerinnen mit ihren besonderen pädagogischen Bedürfnissen in die Aufmerksamkeit der kooperierenden Lehrpersonen. Konsequente inklusive Pädagogik kann sich nicht auf amtlich festgestellte Behinderung beschränken. Individuelle Unterstützung, wie sie behinderten Schülern im gemeinsamen Unterricht zukommt, steht auch Kindern und Jugendlichen mit anderen besonderen Bedürfnissen zu.

In der fachwissenschaftlichen Diskussion ist diese erweiterte Sicht eigentlich nicht neu. Schon die frühe integrationspädagogische Theorie in Deutschland meinte ausdrücklich und

„grundsätzlich nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern ebenso andere gesellschaftliche ‚Randgruppen‘, z.B. ausländische Arbeiterfamilien, Bewohner von sozialen Brennpunkten, Flüchtlinge, Aussiedler. Die Integration behinderter Menschen stellt nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtanliegen dar und deren schulische Integration nur einen zeitlich begrenzten Abschnitt aus dem Ausschnitt.“ (Sander 1992, S. 458)

International wurde die Erweiterung von Integration zu Inklusion aber hauptsächlich durch die eingangs erwähnte Salamanca-Erklärung von 1994 bewirkt. Dort heißt es,

„dass Schulen alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen oder anderen Fähigkeiten aufnehmen sollen. Das soll behinderte und begabte Kinder einschließen, (Straßenkinder und arbeitende Kinder; A.S.) Kinder von entlegenen oder nomadischen Völkern, von sprachlichen, kulturellen oder ethnischen Minoritäten sowie Kinder von anders benachteiligten Randgruppen oder -gebieten.“ (Salamanca-Erklärung 1996, S. 14. Die im Original genannten street and working children fehlen versehentlich in der deutschen Übersetzung).

Diese Aufzählung konkretisiert das weite Aufgabenspektrum von Inklusion. Es handelt sich offenkundig um eine essentielle Erweiterung über die Behindertenpädagogik hinaus und auch über die bisherige Integrationspädagogik hinaus. Unter Inklusion in diesem dritten Sinne (Inklusion III) ist also die umfassende Erweiterung der optimierten Integration auf alle Kinder und Jugendlichen mit welchen pädagogischen Bedürfnissen auch immer zu verstehen. Dieser breite Ansatz bedeutet eine neue Phase des sonderpädagogischen Denkens und Handelns – mit enormen Auswirkungen auf die Zusammenarbeit mit anderen pädagogischen Fachgebieten und mit allen benachbarten Disziplinen.

Zwei Jahre nach der internationalen Salamanca-Erklärung wurde für den Raum der Europäischen Union die ‚Charta von Luxemburg‘ (1996) verabschiedet. La Charte de Luxembourg, unter der Federführung von Dr. Lucien Bertrand entstanden, fasst im Wesentlichen die Ergebnisse des integrationsorientierten europäischen Programmes HELIOS zusammen und behandelt weitgehend die gleiche Thematik wie die Salamanca-Erklärung. Welches Inklusionskonzept ist in dieser europäischen Charta zu finden? Der Ausdruck Inklusion bzw. ‚inclusive education‘ kommt nur in der englischsprachigen Fassung vor. Aber die Charta-Überschrift „Vers une école pour tous“ (Auf dem Weg zu einer Schule für alle) impliziert keine Einschränkung auf die Integration behinderter Kinder, und in der deutschsprachigen Fassung ist ‚l’école pour tous‘ meistens übersetzt als ‚die Schule für alle und jeden‘. Man darf daher die Interpretation wagen, dass auch Kinder mit anderen als behinderungsbedingten Bedürfnissen gemeint sind. Insofern entspricht die Charta von Luxemburg dem Konzept von Inklusion III.

3. Inklusion und allgemeine Schulen

Vorweg ist zu betonen, dass das Inklusionskonzept nicht nur für das Schulalter gilt, sondern im Prinzip ebenso für andere Lebensabschnitte. Die Schule ist jedoch die einzige Pflicht-Institution, die von allen Einwohnern eines Landes cirka zehn Jahre lang besucht werden muss; daher stellen sich in Bezug auf Schule die Fragen von Separation, Integration und Inklusion in besonderer Schärfe.

Wir haben gesehen, dass richtig verstandene Inklusion sich im Schulalter auch auf Kinder mit anderen als behinderungsbedingten Bedürfnissen bezieht; das heißt aber, sie bezieht sich im Grunde auf alle Kinder. Denn jedes Kind ist verschieden, hat eigene Bedürfnisse und verdient individuelle Beachtung. Inklusive Pädagogik ist insofern allgemeine Pädagogik. Oder anders gewendet: Die so genannte Allgemeine Pädagogik sollte endlich die Verschiedenheit der Kinder und Jugendlichen grundlegend anerkennen und darauf aufbauen; dann wird Allgemeine Pädagogik dasselbe sein wie inklusive Pädagogik. Davon sind wir in Theorie und Praxis gegenwärtig allerdings noch weit entfernt.

Stellen wir uns eine Schulklasse vor, die im Sinne der Inklusion zusammengesetzt ist! Eine solche Klasse braucht natürlich nicht in einheitlichem Tempo zu lernen. Die inklusive Klasse umfasst eine so große Heterogenität von Jungen und Mädchen, dass der Versuch, alle zur gleichen Zeit das Gleiche zu lehren, sich von vornherein verbietet. Er verbietet sich nicht nur wegen seiner praktischen Undurchführbarkeit, sondern auch wegen der grundsätzlichen inklusionspädagogischen Haltung, Unterschiede zu akzeptieren und Individualitäten zu unterstützen. Die Klasse soll keine homogene Lernergruppe sein.

Die inklusive Schule fühlt sich zuständig für alle Kinder: für nichtbehinderte und behinderte, für Kinder ohne und mit Migrationshintergrund, für Kinder aus intakten und aus gestörten Familien, für Kinder aus christlichen Familien, aus islamischen oder anders religiösen Familien und aus religionsfernen Familien, für sog. hochbegabte und sog. schulschwache Kinder, für Kinder mit glücklicher und Kinder mit schwieriger Biografie usw. Das gemeinsame Rahmencurriculum der Klasse wird so weit wie erforderlich individualisiert; kein Kind oder Jugendlicher muss am Schuljahresende zwangsweise die Klasse verlassen; die Heterogenität wird bewusst beibehalten.

Die gewollte Heterogenität der inklusiven Klasse erfordert eine andere Unterrichtspraxis als in traditionellen Klassen. Lehren und Lernen finden in vielförmigem Wechsel von Einzelarbeit, Partnerarbeit, Kleingruppen- und Plenumsarbeit statt; auch Phasen von sog. Frontalunterricht haben dabei ihren Stellenwert. Für die aus dem gemeinsamen Rahmencurriculum abgeleiteten individualisierten Curricula werden individuelle Arbeitsaufgaben benötigt, individuelle Rückmeldungen, individuelle Leistungsbeurteilungen und dergleichen mehr. Auf die Lehrpersonen kommen somit differenziertere und teilweise neue Anforderungen zu. Dieser Mehrbelastung stehen aber gleichzeitig Entlastungen gegenüber. Denn erstens erhält die Klasse mindestens stundenweise Unterstützung durch interdisziplinäre Kooperation, etwa mit dem sonderpädagogischen Dienst, dem schulpsychologischen Dienst oder dem sozialpädagogischen Dienst. Zweitens müssen in der inklusiven Klasse die Lernenden nicht mehr zum gleichen Lehrplanziel geführt, gezogen und geschoben werden. Die Belastung der Lehrpersonen durch das meistens erfolglose Bemühen, mit allen das gleiche Ziel zu erreichen, entfällt. Jeder und jede lernt nach seinen bzw. ihren Fähigkeiten, der Unterricht erfolgt zieldifferent, und die Lehrpersonen sind dadurch psychisch entlastet. Die Arbeit ist insofern stressärmer.

Das erleben entsprechend auch die Schüler und Schülerinnen. Lernen und Arbeiten gemäß einem individualisierten Curriculum macht den Kindern weniger Druck als Lernen und Arbeiten in der ständigen Gefahr, ein für alle geltendes Kriterium nicht zu erreichen und als „Versager“ da zu stehen. Ein Hauptkennzeichen von inklusivem Unterricht ist also seine Abwendung von dem frustrierenden Versuch, die Klasse im Gleichschritt lernen zu lassen. Diesen verbreiteten Frust bei den Lehrenden wie bei den Lernenden zu verhindern ist nach meiner Überzeugung zugleich ein wichtiger Beitrag zur Vermeidung von Schulunlust, zur Humanisierung des Schullebens und damit zum Abbau von Absentismus, Vandalismus und anderer Gewalt in Schulen.

Schlussbemerkung zu diesem Kapitel: Was ich hier skizziert habe, ist eine Zielvorstellung von schulischer Inklusion und bezieht sich auf eine idealtypische inklusive Schule. Die Realität ist – wie schon gesagt – vielerorts noch weit davon entfernt und bewegt sich nur langsam. Es erscheint mir aber wichtig, dass alle interdisziplinär Beteiligten dieses anstrebenswerte Richtziel der Entwicklung kennen und sich damit auseinandersetzen. Schulen, die sich auf den Weg zur Inklusion gemacht haben oder es beabsichtigen, können im „Index for Inclusion“ von Tony Booth & Mel Ainscow (2002) konkrete Hilfen finden.

4. Kooperationen in der inklusiven Schule

Inklusionspädagogische Praxis benötigt interdisziplinäre Kooperation. Diese geht über die Zusammenarbeit zwischen Regelschullehrkraft und sonderpädagogischer Lehrkraft, wie man sie aus integrativen Schulklassen schon länger kennt, ein ganzes Stück hinaus.

In Schulregionen, in denen bereits inklusionspädagogisch gearbeitet wird – wie etwa im Bezirk des damaligen kanadischen Schulinspektors Gordon Porter (vgl. Perner 1997) – , verändert sich die Funktion der sonderpädagogischen Lehrpersonen mit der Zeit erheblich. Aus den früheren Special Educators sind dort Method and Resource Teachers geworden, Methoden- und Ressourcen-Lehrer in Regelschulen. Sie arbeiten in der allgemeinen Klasse kooperativ für alle Schülerinnen und Schüler mit, sie vergrößern das Methodenrepertoire im Unterricht und im sonstigen Schulleben, sie kennen spezielle Lehrmittel, Lern- und Arbeitsmittel für besondere pädagogische Bedürfnisse, sie wissen, wie man an diese Ressourcen herankommt, und sie haben Kontakte zu speziellen, auch außerschulischen Fachdiensten, die gelegentlich benötigt werden. Die Methoden- und Ressourcen-Lehrkräfte, kurz M&R-Lehrer, verkörpern geradezu „die Neudefinition der Sonderpädagogenrolle“ (Hinz 2000, S. 128) im inklusiven Schulwesen. Nach den kanadischen Erfahrungen stellen sie eine der wichtigsten Komponenten der schulischen Inklusionspädagogik dar.

Aber Kooperation mit Fachkräften aus der Disziplin Sonderpädagogik genügt nicht. In der inklusiven Schule werden auch Kompetenzen aus andern Disziplinen gebraucht, etwa aus der interkulturellen Pädagogik, die aus der früheren Ausländerpädagogik hervorgegangen ist. Bekanntlich ist in den mitteleuropäischen Staaten die Quote der Schulkinder mit Migrationshintergrund deutlich höher als die Quote der Kinder mit klassischen Behinderungen. Natürlich bedeutet ein Migrationshintergrund längst nicht immer, dass schulische oder soziale Schwierigkeiten entstehen werden; aber für viele dieser Kinder ist die heutige Schule noch zu unflexibel, und erst die inklusive Schule wird auf ihre individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten eingehen können.

Ebenso benötigt die inklusive Schule Kompetenzen aus der Pädagogik und Didaktik für altersgemischte Klassen. Das natürliche breite Schulleistungsspektrum der inklusiven Klasse erfordert Arbeitsweisen, die schon lange in den jahrgangsübergreifenden Klassen bestimmter reformpädagogischer Richtungen praktiziert werden, etwa in der Montessori-Pädagogik und in den Jena-Plan-Schulen.

Die inklusive Schule braucht auch Kompetenzen aus der Disziplin der Feministischen Pädagogik oder besser der Gender-Pädagogik. Denn die Anerkennung eines jeden Kindes als besonderes Kind mit individuellen Potenzen und Bedürfnissen hat zur Konsequenz, dass auch geschlechtsbezogene Gesichtspunkte stärker berücksichtigt werden müssen.

Schon erwähnt habe ich die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit den Fachleuten aus der Schulpsychologie und aus den sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Diensten. Die schulpädagogisch-schulpsychologische Kooperation verläuft vielerorts prinzipiell gut und ist meist nur durch Stellenmangel beeinträchtigt. Die Kooperation zwischen Schule und Sozialpädagogik/Sozialarbeit hingegen ist in vielen Ländern zusätzlich wesentlich erschwert durch die Zugehörigkeit der beiden Institutionen zu verschiedenen Verwaltungen – hie Schulverwaltung, da Sozialverwaltung – , die seit historischen Zeiten nicht zusammenarbeiten. Eine eigentliche Schulsozialarbeit hat, jedenfalls in Deutschland, immer noch Seltenheitswert.

In bestimmten Fällen benötigt die inklusive Schule auch engere Zusammenarbeit mit einem schulärztlichen Dienst. Wie stellt sich hier die Kooperation dar? Einerseits gibt es Länder, in denen eine Schulkrankenschwester bereits zum Kollegium jeder größeren Schule gehört, andererseits aber auch viele Länder, in denen nur seltene, formelle Kontakte zwischen Schule und Schularzt stattfinden, die keinesfalls die Bezeichnung ‚interdisziplinäre Zusammenarbeit‘ verdienen.

Ich muss diese knappe Übersicht beenden, auch aus Gründen der zur Verfügung stehenden Zeit. Nicht erwähnt habe ich die Zusammenarbeit mit den Eltern. Das ist zwar keine ‚interdisziplinäre‘ Kooperation im herkömmlichen Wortsinn. Aber in der inklusiven Schule kommt ihr ebenfalls erhöhte Bedeutung zu.

Abschließend noch ein Gedanke im Anschluss an die Erfahrungen aus New Brunswick in Kanada, wo aus Sonderschullehrern im Zuge der fortschreitenden Inklusion M&R-Lehrer wurden. Diese Erfahrungen zeigen wieder einmal, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit ein prozesshaftes Geschehen ist, das sich in der Praxis entwickeln können muss. Allzu genaue Rollenfestschreibungen von Anfang an wären hinderlich. Kooperation muss bei allen Beteiligten organisch wachsen können, weil sie für die Kooperierenden neu ist und unvorhersehbare Situationen mitbringt. Deshalb meine ich, das Thema 1 der heutigen Veranstaltung, nämlich „Interdisziplinäre Zusammenarbeit als Vorbedingung für inklusionspädagogischen Erfolg“ (Hervorhebung von A.S.), als condition préalable, darf nicht falsch verstanden werden: Die Zusammenarbeit darf nicht von vornherein sehr eng reglementiert und definiert sein, sondern muss sich an den konkreten Erfordernissen entfalten können. Vorbedingung ist lediglich, dass die grundsätzliche Möglichkeit zu Kooperationen personell und administrativ vorhanden ist. Interdisziplinarität und Inklusion stehen zueinander nicht im Verhältnis von Vorbedingung und Folge, sondern im Verhältnis von wechselseitiger Anregung und Herausforderung, kurz: im Verhältnis der Ko-Evolution.

Literatur

Boban, Ines (2000): It´s not Inclusion … – Der Traum von einer Schule für alle Kinder. In: Maren Hans & Antje Ginnold (Hg.), Integration von Menschen mit Behinderung – Entwicklungen in Europa. Neuwied (Luchterhand), 238-247

Booth, Tony & Mel Aiscow (2002): Index for Inclusion. Herausgegeben im Centre for Studies on Inclusive Education (UK). – Deutsche Bearbeitung: Index für Inklusion. Herausgegeben von Ines Boban & Andreas Hinz. Halle (Martin-Luther-Universität, FB Erziehungswissenschaften) 2003

Bürli, Alois (1997): Internationale Tendenzen in der Sonderpädagogik – Vergleichende Betrachtung mit Schwerpunkt auf den europäischen Raum. Hagen (Fernuniversität, Kurseinheit 4098-1-01-51)

Charte de Luxembourg (1996). Vers une école pour tous. Coordination : Lucien Bertrand. Luxembourg et Bruxelles (Helios II)

Hinz, Andreas (2000): Sonderpädagogik im Rahmen von Pädagogik der Vielfalt und Inclusive Education. Überlegungen zu neuen paradigmatischen Orientierungen. In: Friedrich Albrecht, Andreas Hinz & Vera Moser (Hg.), Perspektiven der Sonderpädagogik. Neuwied (Luchterhand), 124-140

Hinz, Andreas (2004): Vom sonderpädagogischen Verständnis der Integration zum integrationspädagogischen Verständnis der Inklusion!? In: Irmtraud Schnell & Alfred Sander (Hg.), Inklusive Pädagogik. Bad Heilbrunn (Klinkhardt), 41-74

KMK (2005): Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1994 bis 2003. (= Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz, Dokumentation Nr. 177). Bonn (Sekretariat der KMK)

MBKW (2005): Saarland – Schüler und Schülerinnen mit sonderpädagogischer Förderungsbedürftigkeit. Saarbrücken (Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft), 26.10.2005

Perner, Darlene (1997): Supporting the Classroom Teacher in New Brunswick. In OECD (ed.), Implementing Inclusive Education. (= OECD-Proceedings, Centre for Educational Research and Innovation). Paris (OECD), 75-80

Salamanca-Erklärung (1996): Pädagogik für besondere Bedürfnisse. Die Salamanca-Erklärung und der Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse. Angenommen von der Weltkonferenz „Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität“, Salamanca, Spanien, 7.-10. Juni 1994. In Deutsch hgg. v. d. Österreichischen UNESCO-Kommission. Linz (Domino)

Salamanca-Statement (1994): The Salamanca Statement and Framework for Action on Special Needs Education. Adopted by the World Conference on Special Needs Education: Access and Quality, Salamanca, Spain, 7-10 June 1994. Paris (UNESCO)

Sander, Alfred (1992): Wohnortnahe Integration – Grundzüge, Probleme, Erfahrungen. In: Die Sonderschule 37, 457-466

Sander, Alfred (2003): Von Integrationspädagogik zu Inklusionspädagogik. In: Sonderpädagogische Förderung 48, 313-329

Sander, Alfred (2006): Liegt Inklusion im Trend? In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 75, 51-53

UNESCO (Hg.) (1995): World Conference on Special Needs Education: Access and Quality. Salamanca, Spain, 7-10 June 1994. (Final Report.) Paris (UNESCO)

Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Alfred Sander, Mecklenburgring 47, D-66121 Saarbrücken

E-Mail: a.sander(a)mx.uni-saarland.de

083_Sander_Inklusionspädagogik_12-10-2006.pdf

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