Kinderrechte im Schatten der aktuellen Ereignisse
Einige Überlegungen zu aktuellen Fragen der/zur Kinderrechtspolitik
Im Umfeld des Internationalen Kinderrechtstages, der jährlich am 20. November stattfindet, stehen üblicherweise die Kinder und ihre Rechte im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Doch in diesem Jahr riskieren diese Belange mehrfach überschattet zu werden. Zum einen aufgrund der dramatischen Ereignisse am 13. November in Paris. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass unter den schätzungsweise 4000 IS-Kämpfern[1], die aus EU-Länder nach Syrien und in den Irak gereist sind, gerade viele junge und (besonders viel männliche) Erwachsene und auch Minderjährige sind, deren Sozialisationsverläufe misslungen sind. Sie schafften es nicht, in unsere durch kulturelle Vielfalt, individuelle Freiheit und Verantwortung geprägte westliche Gesellschaft hineinzuwachsen, so dass sie sich einer wahrhaft barbarischen Gegenkultur verschrieben haben, bzw. anheimgefallen sind.
Ohne die entstandene Gewalt zu legitimieren, müssen wir nach deren Gründen suchen: soziale Ungleichheit, vereitelte Bildungschancen angesichts reformunfähiger Bildungssysteme, „All-in-Work“-Arbeitsmärkte, die um jeden Preis flexibilisiert werden, fehlende Integrationsbemühungen oder desintegrierende Stadtplanungen. Erinnern wir uns an die gewaltvollen Unruhen in den vernachlässigten französischen Vorstädten, die vor genau zehn Jahren nach dem Tod von Ziad Benna (17) und Bouna Traoré (15), zwei minderjährigen Jugendlichen mit Migrationshintergrund ihren Höhepunkt erreichten.
Das Gefühl als junger Mensch oder als Bevölkerungsgruppe „abgehängt“ zu werden, ist u.a. der Nährboden für Radikalisierung. Unter den IS-Kämpfern gibt es aber auch radikalisierte junge Männer, die zuvor ein scheinbar angepasstes Leben in Europa führten, beruflich verankert waren, aber die keinen Sinn als Bürger dieser Gesellschaft gefunden. Es schmerzt umso mehr, dass es gerade „Kinder Europas“ sind, von denen augenblicklich diese Terrorgefahr ausgeht. Missachtung von Kinderrechten haben Langzeitfolgen!
Am 20. November 1989 wurde in New York das Übereinkommen über die Rechte des Kindes von den Vereinten Nationen angenommen. Die Kinderrechtskonvention (KRK) ist das bislang von den meisten Staaten ratifizierte internationale Übereinkommen. Auf der Weltkarte bleiben neben einzelnen Nicht-Mitgliederstaaten der Vereinten Nationen nur noch die USA, die 1995 die Konvention zwar unterschrieben, aber bislang nie ratifiziert haben. Am 1. Oktober 2015 erfolgte nun selbst die Ratifizierung des vom Bürgerkrieg zerrütteten „Landes“ Somalia.
Kein gutes Jahr für Kinder – Bedrohtes Kinderrecht auf Leben und Entwicklung
Wenn wir auf das vergangene Jahr zurückblicken, in dem wir auch in Luxemburg das 25jährige Bestehen der Konvention recht bescheiden gefeiert haben, so gibt es derzeit wenig Anlass zur Freude. Zu viele Kinder sind weltweit, insbesondere aber vor unserer europäischen Haustür, im Mittelmeer oder auf den Fluchtwegen, umgekommen so wie der dreijährige Aylan Kurdi am vergangenen 3. September.[2] Derzeit steigt auch die Zahl an unbegleiteten Minderjährigen, die ohne erwachsene Bezugsperson in Luxemburg regelrecht „stranden“. Seit Anfang 2015 haben laut Auskunft der Dienststelle für Immigration im Aussenministerium 67 Minderjährige (40 zwischen 1. September und 15. November) einen Asylantrag gestellt. Besonders für diese Kinder und Jugendlichen müssen sich die Träger in der Kinder- und Jugendhilfe neu ausrichten und traumapädagogisch orientierte stationäre Erziehungshilfen anbieten. Sie sind besondere Flüchtlinge und bedürfen eines besonderen Schutzes. Sie sollen eine langfristige Perspektive auf volle Integration und erleichterte Einbürgerung erhalten.
Zudem wird der Jahresrückblick überschattet von zwei an die Öffentlichkeit getragenen tragischen Ereignissen in Luxemburg: dem bislang nicht aufgeklärten Verschwindens des Säuglingskindes Bianka von Anfang Juli sowie dem am 10. November auf ungeklärte Weise umgekommenen Ben.
Was auch immer die gerichtliche Aufklärung und juristische Aufarbeitung dieser beiden Kinderschicksale an Abgründe menschlicher Verzweiflung ans Tageslicht bringen wird (und wovon die Öffentlichkeit nicht das letzte Detail erfahren muss, um Anteil nehmen zu können), interpellieren uns diese Fälle. Reichen unsere gesellschaftlichen Bemühungen zur sozialen Absicherung, zum Wohlergehen und zur Integration nicht aus? Wie steht es um das in der Kinderrechtskonvention untermauerte „staatliche Wächteramt“?
Neben dem Diskriminierungsverbot (Artikel 2), dem Vorrang des Kindeswohls (Art. 3) und dem Recht auf Beteiligung (Art. 12) ist das „Recht auf Leben und Entwicklung“ (Art. 6) eines der vier grundlegenden Rechtsprinzipien, nach denen Kinderrechtsfragen zu beurteilen sind. Nach international gängiger Lehrmeinung ist das Recht auf Leben sehr wohl ein echtes individuelles Recht und kein blosses abstraktes Prinzip (Schmahl 2013, S.89)[3]. „Die Vertragsstaaten gewährleisten in grösstmöglichem Umfang das Überleben und die Entwicklung des Kindes.“ (Artikel 6.2.) Hieraus erfolgt die staatliche Pflicht, vielfältige „positive Massnahmen“ auf der legislativen, administrativen und gerichtlichen Ebene zu treffen, um das Leben und Überleben von Kindern vor Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung und anderen schädlichen Praktiken zu schützen.
Aus dem Recht auf Entwicklung leitet sich die staatliche Pflicht ab, in größtmöglichem Umfang zum optimalen Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen beizutragen, etwa durch sozialpädagogische Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und das Bildungswesen. Teil der positiven Maβnahmen ist der derzeitige schrittweise Ausbau der Sozialpädiatrie auf alle Krankenhäuser in Luxemburg. Wünschenswert wäre es auch, eine Säuglings- und Elternberatung flächendeckend anzubieten, die junge Eltern aktiv aufsucht.[4]
Kinderrechte und Elternrechte sind keine Gegensätze
Im Sinne der Kinderrechtskonvention geschieht dies – ausser bei nachgewiesener Kindeswohlgefährdung – immer unterstützend und subsidiär (nachrangig) zu den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten; ihnen obliegen das Vorrecht und die Hauptverantwortung für die Erziehung und das Wohlergehen der Kinder. Deshalb stärkt die Kinderrechtskonvention die Rechte der Eltern und sieht sie als primäre Beschützer des Kindeswohls. Kinderrechte und Elternrechte sind keine Gegensätze. Ihre verfassungsrechtliche Verankerung ist überfällig!
Dem Jugendgericht und dem Nationalen Kinderamt (Office national de l’enfance) kommt ihrerseits die Rolle zu, das „staatliche Wächteramt“ wahrzunehmen. Dies gelingt umso besser, je intensiver die Jugendgerichtsbarkeit und die Kinder- und Familienhilfe miteinander kooperieren. Zurecht erinnerte das ORK (Ombudscomité fir d’Rechter vum Kand) in ihrem diesjährigen Jahresbericht an die überfällige Reform des Jugendschutzgesetzes von 1992. Erst 1993 ratifizierte Luxemburg die UN-Kinderrechtskonvention, so dass wichtige prinzipielle Ausrichtungen ungenügend gesetzliche verankert sind (Beteiligungsgebot für Eltern und urteilsfähige Minderjährige, Diversionsprinzip, Vorziehen von aussergerichtlichen Verfahren wie Schlichtung, Täter-Opfer-Ausgleich, u.ä.), auch wenn sich die Praxis punktuell auf diese Prinzipien hinbewegt (hat). Aus Sicht der Kinderrechte aber müssen Kinder und ihre Anwälte diese Prinzipien einfordern können.
Die Ausübung von Kinderrechten verbessern
Immerhin wurde 2015 der Rechtsschutz von Kindern gestärkt indem das dritte Zusatzprotokoll zur Kinderrechtskonvention am 30. Juni von der Abgeordnetenkammer ratifiziert wurde. Dieses sieht ein individuelles Beschwerderecht vor, das Kindern, ihren Eltern oder Nicht-Regierungsorganisationen die Möglichkeit gibt, sich direkt an das Genfer Kinderrechtskomitee zu wenden, um einen konkreten Fall überprüfen zu lassen. Es genügt jedoch nicht, diesen Text zu ratifizieren, ohne zusätzliche Möglichkeiten und Mittel zur Verfügung zu stellen, etwa im Rahmen der „assistance judiciaire“. Diese soll nicht auf Gerichtsverfahren beschränkt bleiben, sondern auch in anderen Verfahren möglich sein, wo Rechte der Kinder auf dem Spiel stehen, etwa im Bildungswesen. Zu den unerledigten Aufgaben der zuweilen halbherzigen luxemburgischen Kinderrechtspolitik gehört es auch, das „Europäische Übereinkommen über die Ausübung von Kinderrechten“ vom 25. Januar 1996 im Parlament zu ratifizieren, das Luxemburgs Regierung noch am gleichen Tag in Straßburg unterschrieben hat.
Charel Schmit
Präsident des ANCES-Fachverbandes für Soziale Arbeit und derzeitig Vorsitzender der Kinderrechtskoalition (www.kannerrechter.lu) Er unterrichtet am Lycée technique pour professions éducatives et sociales und ist assozierter Lehrbeauftragter für Kinderrechte an der Universität Luxemburg.
[1] Peter Rásonyi: Angriff auf Europa http://www.nzz.ch/international/ein-angriff-auf-europa-1.18646522 (14.11.2015)
[2] Hierzu der lesenswerte Artikel von Marc Thill „Die Macht und die Kraft des Bildes“ im LW vom 19. September 2015.
[3] Stefanie Schmahl: Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen. Handkommentar. Baden-Baden 2013.
[4] Die Sozialpädiatrie wird von der ALUPSE a.s.b.l. vorangetrieben. www.alupse.lu Das BabyPLUS-Programm wird bislang in nur 6 Gemeinden angeboten. http://www.liewensufank.lu/services/service-baby/