arc ¦ archiv fir sozial aarbecht, bildung an erzeiung. Joergank 33, nummer 120
In memoriam Mill Majerus (1950-2011)
Nachruf auf einen christlich-sozialen Familienpolitiker
Charel Schmit
In dieser Ausgabe sollte eigentlich ein längeres Interview mit Mill Majerus zu lesen sein über die Konsequenzen und Aufarbeitung, die sich aus der Erhebung der Gewalt- und Mißbrauchsfälle in den Einrichtungen der katholischen Kirche in Luxemburg ergeben. Es sollte nicht mehr dazu kommen, denn Mill Majerus starb unerwartet am 1. April im Alter von 61 Jahren bei einem tragischen Verkehrsunfall. Der langjährige Regierungsrat (1986 bis 2009) und Abgeordneter seit Mitte 2009 nahm entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung des Sozialwesens in Luxemburg und gehört mit Sicherheit zu den prägenden Persönlichkeiten der zurückliegenden Jahren. Es ist sicherlich unmöglich, sein Wirken und Schaffen in diesen wenigen Zeilen zusammenzufassen, aber wir wollen hiermit Mill Majerus gedenken, der auch über viele Jahre bis 2011 aktives Mitglied in den Reihen der ANCE war.
„Gebeemte Schoulmeeschter“
Der studierte Familien- und Sexualwissenschaftler bezeichnete sich mitunter im persönlichen Gespräch als „gebeemte Schoulmeeschter“. Er gehörte der Lehrergeneration an, die nach ihrer Lehrerausbildung in Luxemburg, durch fachliches Interesse und vom Wissenshunger getrieben, zusätzliche Studien im Ausland absolvierten und die ab den siebziger Jahren in Luxemburg entscheidend zum Ausbau und zur Diversifizierung im Sozial- und Erziehungswesen beitrugen. Ein Blick auf die Gründerliste der ANCE-Vereinigung zeigt wie stark das sozial- und bildungspolitische Engagement der „gebeemten Schoulmeeschter“ war um beispielsweise das Sonderschulwesen aufzubauen, soziale und erzieherische Ausbildungen zu begründen, neue Träger in der Sozialen Arbeit auf die Beine zu stellen, Dienststellen, Tagesstätten und Heimeinrichtungen zu schaffen oder zu reformieren. Und hätte man vor 25 Jahren eine Universität gegründet, so hätten viele von Ihnen auch leichtens eine akademische Laufbahnen einschlagen können. Als talentierter Lehrer, der seine berufliche Laufbahn in Altrier begann, stand Mill die Welt offen. Die Zeichen der Zeit standen damals auf Veränderung, Erneuerung und Aufbruch, auch in der nachkonziliären[1] katholischen Kirche, die den Anschluss an die sich verändernde moderne säkularisierte Welt nicht verpassen wollte. So wurde in Luxemburg 1980 das „centre de pastorale familiale“ gegründet aus der 1981 der Trägerverein „Consultation et préparation familiale a.s.b.l.“ (deren heutige Präsidentin Erna Hennicot-Schoepges ist) hervorging und dessen Familienzentrum Mill Majerus auf- und ausbaute bis er 1986 ins Familienministerium wechselte.
„Nolauschteren“ als Methode …
Vor einigen Monaten fiel mir beim Stöbern in der elterlichen Bibliothek eine kleine Schrift aus der damaligen Zeit in die Hände: „Gut, daß du da bist!“, ein broschiertes Heft des CPF aus dem Jahre 1982, verfasst unter anderem von Sim und Mill Majerus-Schmit, mit Überlegungen, Gedanken, Gedichten und Fragen über das Leben in ehelischer Partnerschaft. Die Publikation dokumentiert den angestrebten Wandel von der konfessionnellen Ehevorbereitung hin zu einer professionnellen und „ergebnisoffenen“ Familienberatung: „Speziell ausgebilte Mataarbechter stin zur Verfügung vun all denen wou ‚et nët méi geet’, déi ‚et sat hun’, déi ‚keen Auswee méi gesin’. Eis Berater hu virun allem geléiert aneren nozelauschteren, si eescht ze huelen, op si anzegoen, mat hinnen zesummen e Wee ze sichen.“[2] Klartext und doch poetisch, „to the point“ und doch sensibel und nuanciert, pragmatisch und doch auf Wissen und Prinzipien gründend. Damals hiessen die Prinzipien „Liewen, Partnerschaft, Fräiheet“. Diese Zeilen lesen sich heute wie eine Programmatik der Mill stets treu geblieben ist und wofür viele Menschen ihn sehr schätzen und hoch achten.
Um das „Nolauschteren“ geht es bei dem 2001 ins Leben gerufene „Groupe permanent d’encadrement psycho-traumatologique“, die in Katastrophenfällen zum Einsatz kommt und bis 2009 von Mill Majerus koordiniert wurde. Um das „Nolauschteren“ und „zur Sprache bringen“ ging es auch in der Seniorenarbeit, die Mill nach eigenen Aussagen grosse Zufriedenheit brachte. Die Gründung der RBS-Seniorenakademie Anfang 1989, die Schaffung von offenen Seniorenzentren (Club Senior), die Entwicklung der Ehrenamtlicheninitiative hin zur professionellen Organisation für Sterbebegleitung Omega 90 a.s.b.l. oder die Initiierung des Masters in Gerontologie im Jahre 2001/2002 an dem damaligen Centre Universitaire (in Kooperation mit der Fondation Universitaire Benelux) fallen in die Schaffenszeit von Mill Majerus. Nicht umsonst entschied sich Mill 2009 zur Übernahme des Vorsitzes von „Omega 90“; gerade wenn Menschen und Mitmenschen wegen Tod und Trauer zu verstummen drohen wird das Zuhören „Am anderen Ende der Lichtung“[3] zu einer besonderen Herausforderung und Aufgabe. Über die Jahre hat Mill viele Menschen in Not begegnet, begleitet und ihnen zugehört. Er redete nicht über, sondern mit den gerne zitierten „klenge Leit“, kannte deren Perspektive und schenkte ihnen Aufmerksamkeit und Achtung anstatt Arroganz. So konnte es auch nicht wundern, daß Mill und Simone Majerus die mehr als schwierige Aufgabe zufiel, eine „Hotline Cathol“ – Kontaktstelle für Opfer sexueller und physischer Übergriffe an Minderjährigen – für die katholische Kirche im Frühjahr 2010 einzurichten und bereits am 10. November 2010 einen ausführlichen und schonungslosen Abschlussberichtvorzulegen.[4] Dessen Lektüre lässt ahnen, daß das Zuhören keine leichte Aufgabe war. Mittlerweile liegen auch die ensprechenden Leitlinien vor. [5]
… Organisieren und Handeln als Zeugnis, Begegnung als Ziel
Das „Nolauschteren“ war ihm stets unverzichtbares Mittel, denn wir alle kannten ihn als gekonnten Moderator aus unzähligen Gruppendiskussionen, Rundtischgesprächen, Paneldiskussionen, Seminaren und Symposien. Dieser sichere Umgang mit dem Wort ermöglichte es ihm, als vielgefragter Conférencier soziale und sozialpolitische Themen publikumsgerecht voranzubringen. Immer wieder gelang es ihm, Vertreter sehr unterschiedlicher Standpunkte miteinander im Dialog zu halten und sie in einen produktiven und kreativen Prozess zu beteiligen. Mill wusste, wie man Menschen, oft aus sehr unterschiedlichen Herkünften zusammenbringt. Die meisten von uns verbinden mit Mill auch die Begegnung mit anderen Menschen, die wir sonst nicht kennengelernt hätten. Zweifelsohne wurzelte die „soziale Ader“, für die Mill allseits bekannt, bewundert und beneidet wurde, in seinem Glauben und seiner Zugehörigkeit zur katholischen Glaubensgemeinschaft. Seine Handlungsorientierung war somit immer auch Zeugnis für etwas, für das es sich lohnt anzuecken.
Der Netzwerker und Tatmensch Mill war auch ein Machtmensch, der sich durch Zielstrebigkeit und Durchsetzungsvermögen auszeichnete. Schneller, arbeitsamer, emsiger als so mancher andere gelang es ihn deshalb wichtige Projekte und sozialpolitische Maßnahmen auf den Weg zu bringen und in die Tat umzusetzen, in den letzten Jahren vor allem im Bereich der Seniorenarbeit, Alten- und Palliativpflege, der Kinderbetreung und nicht zuletzt in der Kinder- und Jugendhilfe. Viele, die etwas neues im Sozialwesen ausprobieren wollten, suchten Mill als wichtigen Ansprechpartner im Familienministerium auf. Auch als es um die Schaffung des „Bachelor en Sciences sociales et éducatives“ an der neu gegründeten Universität Luxemburg oder um das Projekt eines „Handbuch soziale und erzieherische Arbeit in Luxemburg“[6] (2005 bis 2009) ging, war Mill ein unterstützender Gesprächspartner, der die Bedeutung über das Tagesgeschäft hinaus nie aus dem Blick verlor.
Von der „Vox infantium“[7] zur „Lex Majerus“
Die Thematik der Kinderrechte interessierte und begleitete Mill über viele Jahre. Nachdem Luxemburg am 20. Dezember 1993 die Kinderrechtskonvention von 1992 ratifizierte, musste ein erster Kinderrechtsbericht 1996[8] erstellt werden, ein Meilenstein auf dem Weg zur viel später erfolgten Einsetzung des ORK[9]. Gemäß der Kinderrechte-Triade „protection“ (Schutzrechte), „participation“ (Beteiligung und Mitentscheidung) und „provision“ (Rechte auf adäquate Grundversorgung) beackerte Mill diese drei Felder. Den Grundsatzartikel zur Partizipation „Vox infantium“ verfasste Mill im September 2007, nach der Kinderrechts-Sommeruniversität in Echternach, die er mit dem Kinderrechtsexperten Jean Zermatten vom IUKB in Sion (CH) ins Leben rief. Als besonders schutzbedürftig empfand er die jugendlichen Bewohner des „Centre socio-éducatif de l’Etat“ in Dreiborn, deren Kommissionsvorsitzende er viele Jahre war. In seiner letzten Wortmeldung im Parlament anläßlich der von der DP angefragten Aktualitätsstunde zur Umsetzung des AEF-Gesetzes vom 20. November 2008 verlangte er erneut zusätzliche Fachkräfte für die sogenannten „ Dräibuerer Kanner“. Unerwähnt blieb die „Unité de Sécurité“ in Dreiborn, für die er sich stark machte. Die ANCE vertritt hierzu ja eine eher kritische Haltung. Mit der Schaffung des „Office National de l’Enfance“ durch das AEF-Gesetz schliesslich gelang Mill Majerus eine notwendige Reform der Kinder- und Jugendhilfe. Die Umsetzung dieser „Lex Majerus“ konnte er nicht mehr direkt steuern, sondern lediglich von der Abgeordnetenbank aus mitverfolgen.
Der „Mill-Faktor“ wird fehlen. The best was yet to come!
Mit ihm verliert die CSV eines ihrer stärksten politischen Talente, Realist und Visionär zugleich. Mit ihm verliert die CSV und die katholische Kirche einer ihrer glaubwürdigsten Vertreter für christlich-soziale Politik. Seine jüngste politische Idee lancierte er im März: „Der Bezirkspräsident ging auch auf die Familienpolitik und die Aufwertung des Freiwilligendienstes ein und unterbreitete der Regierung einen Vorschlag, wonach künftig der Staat bei Eltern, die sich als Hausfrau bzw. Hausmann um die Erziehung ihrer Kinder kümmern wollen, einen Teil der sozialen Beiträge übernehmen solle. Im Gegenzug müsse sich der Elternteil beruflich weiterbilden, um den Wiedereinstieg ins Berufsleben zu erleichtern.“ [10] Der „Mill-Faktor” wird vielerorts fehlen, the best was yet to come!
Den trauernden Hinterbliebenen, vor allem seiner Frau Simone und ihren Kindern, drücken wir unser Beileid und Mitgefühl aus.
Charel Schmit
Präsident der ANCE
Fotozeile: Mill Majerus anläßlich der ANCE-Fachkonferenz „Kinder betreuen, erziehen und bilden. Qualität und Professionalität in der Tagesbetreung“ am 20. März 2006 an der Universität Luxemburg, Campus Walferdingen
[1] Zweite Vatikanische Konzil (Vaticanum II), 1962 bis 1965.
[2] Centre de Pastorale Familiale, Centre Chrétiens d’Éducation des Adultes (Hg.) : Gut, daß du da bist! Luxemburg 1982. S. 62
[3] Cf. Anthologie zum 20. Jubiläum mit literarischen Texten in mehr. Sprachen von luxbg. Autoren. Omega 90 (Hg.): Am anderen Ende der Lichtung. Luxemburg 2010. www.omega90.lu
[4] Simone Majerus, Mill Majerus: Hotline Cathol. Abschlussbericht. Luxemburg, 18. November 2010. http://www.cathol.lu/Klagen-Erkenntnisse-Empfehlungen.html
[5] Leitlinien der Erzdiözese Luxemburg für den Umgang mit sexualisierter Gewalt an Minderjährigen im kirchlichen Bereich. http://www.cathol.lu/Leitlinien-der-Erzdiozese.html (Luxemburg, 26. April 2011)
[6] Willems, H., Rotink, G., Ferring, D., Schoos, J., Majerus. M., Ewen, N., Rodesch-Hengesch, M.A. & Schmit, Ch. et al. (2009). Handbuch der sozialen und erzieherischen Arbeit in Luxemburg (in zwei Bänden). Luxembourg: Edition St. Paul.
[7] Mill Majerus: Vox Infantium. Participation et citoyenneté de l’enfant. In : forum 269, September 2007. www.forum.lu
[8] Rapport initial « Les droits de l’Enfant au GDL », juillet 1996
[9] Loi du 25 juillet 2002 portant institution d’un comité luxembourgeois des droits de l’enfant, appelé ‚Ombuds-Comité fir d’Rechter vum Kand‘ (ORK)
[10] LW-Artikel von Anne Aymone Schmitz, Luxemburger Wort, 7.03.2011