Bericht zum FICE-Kongress 2006 in Sarajevo
Auch mit belasteter Kindheit die Zukunft gestalten?
Damit uns die Vergangenheit nicht einholt?
Beitrag für die Zeitschrift „Erziehungshilfen“ der IGFH Deutschland, Ausgabe Dezember 2006
…im Herzen Europas
Der in Abstand von zwei Jahren stattfindende Kongress der FICE, der „Internationalen Gesellschaft für Heimerziehung“ tagte in diesem September im geschichtsträchtigen Sarajevo, der Hauptstadt der bosnisch-herzegowinischen Föderation. Dass die Tagung ausgerechnet in dem von der rezenten Geschichte gebeutelten Region stattfand, hängt eng mit den Bemühungen des FICE-Verbandes zusammen, der in den letzten Jahren sich sehr stark in der ganzen mittel- und osteuropäischen Region involviert hat. So waren es vornehmlich die niederländische und die schweizer FICE-Sektion, die in den vergangenen Jahren nicht nur nationale FICE-Sektionen in den MOE-Staaten gründeten, sondern auch zahlreiche sozialpädagogische Projekte mit ins Leben riefen und unterstützten. Dass diese Bilanz der FICE-Arbeit in der Balkan-Region so positiv ausfällt, ist mit Sicherheit auch der Verdienst des nun scheidenden langjährigen Vorsitzenden Theo Binnendijk. Er wirkte seit 2000 an der Spitze des internationalen Fachverbandes für erzieherische Hilfen und „out of home care“. Monika Niederle, Magistrat der Stadt Wien und Leiterin des „Amtes für Jugend und Familie, Sozialpädagogische Region für männliche Jugendliche“ trat in Sarajevo seine Nachfolge an.
Der Umstand, dass der Kongress nicht in einem üblichen Kongresszentrum, sondern in einer dürftig renovierten, aber noch nicht benutzbaren Schwimmhalle auf dem ehemaligen Olympiade-Gelände (Winterolympiade 1984 in Sarajevo) stattfand, bewirkte bei den Teilnehmern ein ständige Präsenz des Schwepunktsthemas: Im Mittelpunkt stand die Lebenssituation junger Menschen, die oft so belastet ist, dass eine gelingende Zukunft kaum erkennbar ist. Die Ursachen können unterschiedlicher Natur sein – Kriege, Naturkatastrophen oder individuelle Schicksalsschläge. Oft ist ein so genanntes «abweichendes» Verhalten die Folge. Aus der Perspektive der Jugendlichen ist dieses Verhalten jedoch der Versuch, die eigene Zukunft zu gestalten. Aus pädagogischer Sicht wurde nach den Möglichkeiten und Handlungsstrategien gefragt, die es den Fachkräften in sozialpädagogischen Einrichtungen erlauben, Jugendliche darin zu unterstützen, sich trotz belasteter Vergangenheit positiv zu entwickeln und ihre Zukunft hoffnungsvoll zu gestalten.
Nicht im Trauma stecken bleiben…
Dabei wurde im Verlauf der Kongress deutlich, dass die Bewältigung von Trauma und psycho-sozialer Notlage kein frommer Wunsch bleiben muß. Auch hier diente der Veranstaltungsort sicherlich als Hoffnungszeichen: „Seit Jahrhunderten liegft Sarajevo an einem Schnittpunkt verschiedener Kulturen und entwickelte daraus eine besondere Kraft zwischenmenschlicher Toleranz. Der letzte Krieg war ein Angriff auf dieses Miteinanderleben und hat unermessliche Spuren des Leids hinterlassen – gleichzeitig hat er jedoch auch das Potential dieser Kultur freigelegt, dieses Leid zu ertragen, zu überwinden und neue Wege in die Zukunft zu suchen.“, so die Vorsitzende von FICE-Süd-Ost Sena Drucic. In der Tat spürt man in Sarajevo mehr als anderswo die Notwendigkeit, am „Haus Europa“ weiterzubauen, man spürt die europäische Mitverantwortung an einer befriedeten und auf demokratische Werte und Prinzipien ausgerichtete Entwicklung. Im Gespräch mit den Einwohnern, ob Taxifahrer, Verkäufer, muslimische Klosterschülerinnen oder Kaffebesitzer, ihnen allen ist die Vergangenheit gegenwärtig und kommt schnell über die Lippen. Aber sie ergeben sich nicht darin, schauen nach vorne, so gut es in der von Arbeitslosigkeit, Geschäftmacherei und Vetternwirtschaft geprägten Gesellschaft. So war der Veranstaltungsort willkommene Bestätigung und Aufforderung dessen, was die eingeladenen Referenten zu den Themen Traumabewältigung, Resilienz und Friedenspädagogik von ihrer langjährigen Forschungsarbeit oder Fachpraxis preisgaben.
Und in der Tat zogen Redner, wie der Französische Neuropsychiater Boris Cyrulnik die Teilnehmer in den Bann ihrer auf Jahren gründenden Traumaforschung. Boris Cyrulnik berichtete hoffnungsvoll von Kindersoldaten, die zu 80% durch nachholende schulische Ausbildung Berufe ergreifen, die der Gesellschaft zu gute kommen (Ärzte, Krankenpfleger, Erzieher, Lehrer u.ä.). Die Schule, so folgert er, ist ein besonderer Resilienz-Tutor. In der Schule ist es Kindern und Jugendlichen erlaubt, den Beruf des Menschen („réapprendre le métier humain“) kennen zu lernen und einen Umgang mit der belasteten Kindheit und Lebenssituation zu lernen. Viel zu unbeachtet ist seinen Aussagen zufolge die emotional-affektive Vernachlässigung von Kindern; diese sieht er neben der sexuellen und der physischen Misshandlung als ebenso schwerwiegend für den weiteren Lebensverlauf junger Menschen. Dabei sei klar, dass sich Emotionalität und Intelligenz sich gegenseitig positiv bedingen und das menschliche, das kindliche Grundbedürfnis nach einer emotionalen Bindung ein so zentrale Anliegen in der Arbeit mit denen uns anvertrauten Kindern sein müsste. Schliesslich beleuchtete er die mögliche Aufarbeitung von Trauma, die vielfach über sehr persönliche Bewältigungsrituale geschieht. Es sei wichtig, dass man Menschen bis ins Hohe Alter hinein das Recht zugesteht, sensible und schmerzende Lebensphasen erst allmählich aufzuarbeiten. So kommt es häufig vor, dass traumageprägte Menschen nicht ihren eigenen Kindern, sondern erst ihrer Generation der Enkel Zeugnis und Vermächtnis des von ihnen erlebten, durchlebten und überlebten Situationen abgeben.
Der deutsche Neuropsychologe Lutz-Ulrich Besser berichtete seinerseit über die „traumatische Zange“, ein Situation, in der der betreffende Mensch, das Opfer, das Gefühl des völligen Ausgeliefertsein und der Ausweglosigkeit verspürt. Was geschieht in diesen Situationen? Interessanterweise greift der Mensch neuronal zu allererste auf das Bindungssystem zurück (Wo ist die Mutter? Der Vater? Wer meiner Leute kann mir helfen?) In traumatisierendne Situationen fällt das aus, das Opfer versucht sodann zu fliehen, zu kämpfen, bevor es schliesslich aus neuropsychologischer Überbelastung sein System „einfriert“ und nur noch bruchstückhaft die Wirklichkeit wahrnimmt. („no flight, no fight, freeze, fragmentation“) Diese Bruchstücke aber lösen später die Flashbacks aus, die traumaisierten Personen das Leben regelrecht zur Hölle machen. Doch auch im Vortrag von Bresser überwiegt der Optimismus hinsichtlich der Traumabewältigung durch Psycho-therapie und Erziehung. Seine Hoffnung gründet er auf die Neuroplastizität des Gehirn: das Gehirn lernt entlang den Nutzungsbedingungen!
Diese Nutzungsbedingungen sind Auftrag und Arbeit für den Sozialpädagogen, Sozialerzieher. Bresser attestiert er emotionalen Bindung eine zentrale Rolle für die Ausdifferenzierung sozialer Beziehungen, der Wahrnehmungsfähigkeit, der Neugierde, des Wissenerwerbs und der Erfahrung sowie der Motorik. Bresser sieht jedoch das derzeitige Umfeld sehr kritisch und fragt: Wie aber schützen wir unsere Kinder vor dem ständigen und unaufhörlichen Brainwash, das tagtäglich diese für das Kollektiv und unser Gesellschaftssystem so lebenswichtigen Aspekte in Frage stellt?
Und der Zukunft zugewandt!
Balsam auf die Seele der anwesenden Pädagogen lieferte Anne Fromann, die mit ihrem Vortrag der rage nachgin, wie Menschen, die den Krieg erlebt haben, zum Frieden erziehen. Anne Fromann wurde zurecht als „Grand old lady“ der Friedenspädagogik auf dem Kongress gefeiert und die Teilnehmer vernahmen ihre eindringlichen und durch die Lebensmut und Klugheit geprägten Appelle: Die Erwachsenen können zurücktreten für die Bedürfnisse und Belange der Kinder. Ihr Ego muss nicht als erstes bedient werden. Pädagogen müssten sich die Ehrfurcht vor dem Lebens des jungen Kindes erhalten, die es dem Kind ermöglicht selbst Entwicklungsschritte zu machen, zu denen der Erwachsenen nie fähig war, wäre oder die ihm verwehrt blieben.
Eindringlich rief sie zur Aufgabe auf, das „andere“ zu lernen und zu üben: Solidarität, Vertrauen, Respekt, Gerechtigkeit. Frommann wusste Begriffe zu rehabilitieren, die wir allzu gerne und fälschlicherweise in die sozialpädagogischen Antiquitätensammlungen und Klamottenkisten verdrängt haben. Nun aber, in einer unübersichtlich gewordenen Welt in der Gundrechte und Grundfeste der Demokratie und Zivilisation in Frage gestellt werden, suchen wir nach neuem Halt. Dieser Halt liegt für Fromman zum einem in dezidiert kritischer Begleitung dessen was um uns geschieht – von wegen roasarote Friedensbrille! – sowie zum anderen in der intergenerationellen Verantwortung: „Es ist leichter für Kinder eine Zukunft zu bauen, als für sich selbst! Kinder nicht aufzugeben, ist eine bleibende Herausforderung; für sie müssen wir lernen, tanzen, springen, lachen, pflegen…“
Also mit einem pädagogischen Credo verabschiedete sich der Kongress, bei dem natürlcih viele andere und auch wichtige Dinge in Workshops besprochen wurden (Qualitätsentwicklung, Evaluation, Familiendiagnostik u.v.m.) bis zum nächsten in Finland. Anläßlich des 60jährigen Bestehens der FICE-Vereinigung steht das Thema „Better future for Children – TODAY“ in Helsinki im Juni 2008 auf dem Programm. 2010 geht es dann nach Südafrika und 2012 vielleicht nach den USA, deren nationale Sektion nun der FICE-International in Sarajevo neu hinzugestossen ist.
Charel Schmit
Pädagoge, (34), enseignant-chercheur an der Universität Luxemburg, tätig in der Ausbildung der Sozialpädagogen und Mitglied der INSIDE-Forschungsgruppe. charel.schmit@uni.lu Vorsitzender der nationalen FICE-Sektion in Luxemburg. www.ance.lu.
Bilderkommentare: 1.: Markplatz in Sarajevo, 2. die am 25. und 26.8.1992 zerstörte und noch renovierungsbedürftige Universitätsbibliothek, 3: Brainwashing in einem Internetcafé in Sarajevo: virtuell geht der Krieg weiter, 4: Schwimmhalle im ehemaligen Olympiade-Dorf anstatt in luxuriösem Kongresszentrum: der FICE-Kongress 2006.